Das Ägyptenbild des Abendlandes
(15.–17. Jahrhundert)
Bis zur Entzifferung der Hieroglyphen im Jahre 1822 war dem Abendland das Alte Ägypten nur durch griechische und lateinische Werke antiker Autoren wie Herodot, Diodor, Plutarch und durch die Bibel bekannt …
Die Diskrepanz zwischen der Ägyptenverehrung der Griechen und seine Verachtung in der biblischen Exodus-Geschichte wurde dadurch erklärt, dass Ägypten ein Land von symbolischer Weisheit sei: Nur äußerlich habe es Polytheismus und Aberglauben gegeben, in der verborgenen Tiefe aber sei es um eine philosophische Theologie oder gar eine Vorform des Christentums gegangen.
Diese Vorstellung blieb für das frühe Ägyptenbild bestimmend, so auch in zwei im 15. Jh. wiederentdeckten griechischen Texten, die im Italien der Renaissance auf großes Interesse gestoßen sind. Das Corpus Hermeticum (1.-3. Jh.) galt lange als älteste Offenbarung ägyptischer Weisheit. Die Hieroglyphica des Horapollon (5./6. Jh.) sind als „Handbuch“ zum Verständnis der Hieroglyphen gemeinsam mit Bibelversen und Zitaten klassischer Autoren in Valerianos Hieroglyphica (1556) eingegangen, die erste Abhandlung der Neuzeit über ägyptische Hieroglyphen und ältestes „Symbollexikon“. Diese Schriften waren auch Grundlagenwerke für den produktivsten Interpreten Ägyptens im Barock, Athanasius Kircher (1602-1680), der sie u.a. als Zeugnisse eines ägyptischen Urmonotheismus ansah.
Das Ägyptenbild im 18. Jahrhundert
Das 18. Jh. ist nicht nur das Zeitalter der Aufklärung, sondern auch dasjenige der Geheimgesellschaften und des gegenaufklärerischen Obskurantismus. Hierbei lässt sich das Ägyptenbild und die Freimaurerei nicht eindeutig aufklärerischen oder gegenaufklärerischen Tendenzen zurechnen …
Schon seit dem 17. Jh. wird Ägypten in den historischen Wissenschaften nicht mehr als Teil der biblischen Heilsgeschichte angesehen. Die frühe Bibelkritik sowie die Orientalistik und die Hebraistik sahen Ägypten als Umfeld ihrer disziplinären Zuständigkeit. John Spencer untersucht in De Legibus Hebraeorum (1685) das hebräische Ritualgesetz vor dem Hintergrund der ägyptischen Religion und trägt zu einem entmystifizierten Ägyptenbild bei. Die sachlichste und umfänglichste der vielen Darstellungen der Götterwelt Ägyptens im 18. Jh. stammt von Paul Ernst Jablonski (Pantheon Aegyptiorum, 1750), während die apologetische Religionsgeschichte von Noël Antoine Pluche (Histoire du Ciel, 1739) von herausragender Bedeutung für das Ägyptenbild der Freimaurer gewesen ist. Sie arbeiteten ihre Initiationsrituale nach angeblich ägyptischem Vorbild aus (Crata Repoa, 1770) und diskutierten die philosophische und religionsgeschichtliche Bedeutung der ägyptischen Mysterien für das Selbstverständnis ihrer Logen
Ideengeschichte
Das Corpus Hermeticum wurde so benannt, weil als Autor Hermes Trismegistos angesehen wurde. Hermes war für die Griechen der ägyptische Gott Thot. Die ihm zugeschriebenen Werke galten als uraltes Geheimwissen und waren Grundlagen für Hermetismus und Alchemie …
Zusammen mit Triebkontrolle und Nächstenliebe, Philosophie und Theologie gehörten sie zur Vielfältigkeit der Diskussionen der Zeit, in die die Freimaurerei der Aufklärungsepoche eingebunden war. Als diskrete Gesellschaft, deren Mitglieder über ihr Logenleben schweigen und deren Zweck und innerstes Geheimnis selbst unter den Freimaurern unklar oder umstritten war, haben sie zu Spekulationen Anlass gegeben und wurden auch als Betrüger, Weltverschwörer oder Sexualmagier gebrandmarkt.
Ägypten war als vermeintlich älteste und vollkommenste Mysterien-Kultur ein Vorbild für viele Logen, die sich als Erben ägyptischer Priester verstanden. Ein Blick auf diese „ägyptische Freimaurerei“ zeigt ein facettenreiches Bild, zu dem das Bemühen der Freimaurer um individuelle Selbstvervollkommnung im Dienste bürgerlicher Tugenden gehörte. Ebenso verständlich wird aber auch, wieso blutige Rituale, sexuelle Exzesse, die Suche nach dem „Stein der Weisen“ oder revolutionärer Atheismus zum Assoziationsraum freimaurerischen Lebens im 18. Jh. gehörten und bis heute ein Faszinosum geblieben sind.
Dramaturgie
Freimaurerei ist Handeln, Erleben und Entwickeln. In ihren Einweihungsritualen durchleben die Freimaurer Angst und Schrecken, Gemeinschaft und Hoffnung, sie sterben einen rituellen Tod und lernen dadurch mit Geist und Körper …
Zusammenhang von „Lernen und Leiden“ wurde im 18. Jh. in der „ägyptischen Freimaurerei“ dramatisch ausgestaltet. Ägypten galt als Inbegriff einer Kultur, die das Undarstellbare in Symbolen, Mythen und Ritualen erschließt, aber nie gegenständlich macht. Es geht dem Freimaurer in diesem Sinne nicht um ein vollendetes System, sondern um eine nie endende Arbeit an sich selbst und an einer Wahrheit, die nicht objektiviert werden kann.
Als Vorlage hierfür dienten Romane wie Apuleius‘ Metamorphosen (2. Jh.) oder Jean Terrassons Sethos (1731). Freimaurer, die sich als Erben Ägyptens verstanden, nahmen diese literarische Dramaturgie und Ästhetik der Mysterien auf, um ihre Rituale so wirksam wie möglich auszugestalten. Die Einweihung in die Mysterien wurde zu einem multimedialen und gesamtästhetischen Erleben. Ihrerseits hat die Freimaurerei die Romanliteratur geprägt: Die Dramatik ihrer Rituale wurden in der Erbauungsliteratur, wie z.B. Karl von Eckartshausens Kostis Reise von Morgen gegen Mittag. Eine Reisebeschreibung aus den Zeiten der Mysterien (1795), in Lesemysterien überführt und die Unterhaltungsliteratur schwelgte in der Sinnlichkeit der Tugendprüfungen.
Der Inhalt des Romans Sethos
Jean Terrasson (1670-1750), Professor für griechische Sprache am „Collège de France“ in Paris und Herausgeber, Übersetzer und Kommentator einer maßgeblichen Diodor-Ausgabe, publizierte 1731 die fiktive Lebensgeschichte des ägyptischen Prinzen Sethos, die er als Veröffentlichung eines griechischen Manuskripts ausgab und mit gelehrten Anmerkungen versah …
Der Held bewährt sich in den Verlockungen eines korrupten Hoflebens sowie im Kampf gegen eine Riesenschlange und darf schließlich, kaum sechzehnjährig, in die Unterwelt der Pyramiden steigen, um sich dort gefährlichen Prüfungen seines Mutes und seiner Tugend zu unterziehen. Er besteht eine Feuer-, eine Wasser- und eine Luftprobe, passiert Wächter der Unterwelt, bevor er zu den Mysterien zugelassen und initiiert wird. Dieser Roman wurde von den Freimaurern des 18. Jhs. als eine authentische Schilderung altägyptischer Mysterienweihen verstanden und diente vielen als Vorlage für ihr Ägyptenbild; zahlreiche Motive sind in das Libretto von Mozarts Zauberflöte eingegangen.
Mysterien von den Metamorphosen zu Sethos
Insofern die Freimaurer Einweihungen praktizieren, sind sie eine Mysterien-Gemeinschaft und stehen in einer langen literarischen Tradition fiktionaler Berichte über die Mysterien. Die ausführlichste Schilderung der Antike findet sich in Apuleius‘ Roman Metamorphosen (2. Jh.) …
Der durch seine Neugier in einen Esel verwandelte Lucius wird nach Reue und Buße im Rahmen der Isis-Mysterien wieder zu einem Menschen und anschließend in die Mysterien der Isis und des Osiris eingeweiht.
Die Mysterien, in denen der Mensch aus der Welt der alltäglichen Erfahrung in eine den Sinnen verborgene Welt geführt wird, in der er dem Göttlichen begegnet und sich als Mensch zum Besseren wandelt, wurden mit Abenteuer- und Reiseromanen assoziiert, wie sie Andrew Michael Ramsay in Cyrus (1727) vorgelegt hat. Romane und Erzählungen thematisierten die Mysterien immer wieder und prägten das Ägyptenbild der Freimaurer, so insbesondere der Roman Sethos von Jean Terrasson, der in der Freymäurer-Bibliothek von 1782 als “Beytrag zur Geschichte der Freymäurerey in den ältesten Zeiten“ verstanden wurde. Die Literatur des späten 18. und frühen 19. Jhs. übernahm ihrerseits die Freimaurerliteratur, so lässt Christian August Vulpius im Räuberroman Rinaldo Rinaldini (1798) das Freimaurerritual Crata Repoa aufführen.
Die Zauberflöte
Die sicher als berühmteste und beliebteste Oper der Welt anzusehende Zauberflöte von Emanuel Schikaneder (Text) und Wolfgang Amadeus Mozart (Musik) wurde am 30. September 1791 in Wien uraufgeführt. Über den großen Erfolg konnte sich Mozart nicht lange freuen: 66 Tage nach der Uraufführung stirbt der nur 35-jährige …
Sah man früher noch Brüche in der Oper, so kann die neueste Forschung zeigen, dass der seit 1784 einer Loge angehörende Freimaurer Mozart sich weit stärker als nur „Vertoner“ in ihren Inhalt und Aufbau eingebracht hat. Es geht sicher auf ihn zurück, dass die zwei Opernakte à zwei Teile auf den vierstufigen Weg zu den Freimaurergraden zurückgeht, die Oper also in Gänze die freimaurerische Einweihung nachzeichnet.
Inhaltlich orientiert sie sich eng am Sethos-Roman Terrassons (1731), in dem der Titelheld harte Prüfungen bestehen muss, um als Eingeweihter ein guter Mensch und Herrscher zu werden. In der Zauberflöte ist es der Prinz Tamino und die Prinzessin Pamina – beides altägyptische Namen mit der Bedeutung „Der/Die zum (Gott) Min Gehörige“ – die nach Prüfungen in die Gemeinde der Eingeweihten aufgenommen werden.
Es sind diese ägyptischen Elemente der Oper, die Mozart sie ursprünglich Die Egyptischen Geheimnisse nennen ließen und die beim Publikum auf besondere Faszination gestoßen sind, so dass die Oper in Paris fast 30 Jahre lang sogar unter dem Titel Les Mystères d’Isis (Die Mysterien der Isis) gespielt wurde.
Ägyptische Freimaurerei als vielschichtiges Kulturphänomen
Die Freimaurer und ihr Ägyptenbild sind vielfältig in die Kulturgeschichte des 18. Jhs. eingebunden. Bereits der griechische Schriftsteller Plutarch (um 100 n.Chr.) hatte die für die Ägyptenrezeption leitende Idee eines Strebens nach einer an sich verborgenen Wahrheit anhand der ägyptischen Kultur entwickelt …
Der Aufklärungstheologe Johann Salomo Semler hatte Plutarch und Herodot in Erleuterung der egyptischen Altertümer (1748) für das 18. Jh. erschlossen. Die Vorstellung einer ägyptischen Unterwelt übernahmen die Freimaurer von Cornelis de Pauw (1774), Ritualnamen in Crata Repoa stammen aus Mytheninterpretationen von Antoine Banier, die als Erläuterung der Götterlehre vom Hannoverschen Pastor Johann Adolf Schlegel 1754-66 herausgegeben wurden. In seiner radikalaufklärerischen Sicht auf die Freimaurerei berief sich Christian Ernst Wünsch in Horus (1783) auf die Geschichte der Sternkunde des Altertums (1777) des Freimaurers und später guillotinierten ersten Bürgermeisters von Paris Jean-Sylvain Bailly.
Aber auch Betrüger wie Cagliostro (1743-1795) und Alchemiker wie die Gold- und Rosenkreuzer beriefen sich auf Ägypten. Friedrich Joseph Wilhelm Schröder verstand in Geschichte der ältesten Chemie und Philosophie (1775) die Alchemie als innersten Kern der freimaurerischen Logenpraxis.